Stadtspaziergang: Auf den Spuren jüdischer Kunstsammler

Im Landesmuseum Mainz gibt es Kunstwerke, die daran erinnern, dass Menschen jüdischen Glaubens Mitbürger, Kunstmäzene und Sammler waren. Einige dieser Kunstwerke haben eine dunkle Vergangenheit. Uwe Bergmann-Deppisch ist Historiker und nimmt Sie gemeinsam mit Ulrike Bergmann mit – auf einen Spaziergang durch Mainz auf den Spuren jüdischer Kunstsammler. 

Unterstützt wurden die beiden von Tobias Bast, der die Fotos zum Projekt gemacht und beim redigieren der Texte geholfen hat. 

So funktioniert der Audio-Spaziergang:

Begeben Sie sich zur jeweiligen Station. Klicken Sie dort auf das Bild, dann können Sie den Text der Audioführung auf ihrem eigenen Smartphone anhören. Alternativ können Sie die Texte auch lesen, Sie finden sie bei jeder Station unter dem Audio. 

Dauer: ca. 60 Minuten, reine Hörzeit 45 Minuten 
Laufstrecke: ca. 2 km 

Karte zum Download


1: Landesmuseum Mainz, Große Bleiche 49-51

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Inventarliste von 1933
Inventar

In den letzten Jahren wurde durch Projekte, die das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste unterstützte, aufgedeckt, dass die ehemaligen Besitzer ihre Kunstwerke nicht freiwillig abgegeben hatten. Die Kunstwerke wurden veruntreut, beschlagnahmt, enteignet, geraubt. Oder die Besitzer waren in ihrer wirtschaftlichen Not gezwungen, zu verkaufen.

Mit diesem Spaziergang möchten wir vor allem die Menschen und ihre Leben in den Mittelpunkt rücken. Wir wollen die menschlichen Schicksale, die hinter diesen Kunstwerken stecken, erzählen. Daher stellen wir einige Mainzer Kunstenthusiasten und -sammler vor. Es waren sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Viel verband sie nicht, doch sie alle entstammten jüdischen Familien. Karoline Weis lebte in bescheidenen Verhältnissen. Gerti Salomon entstammte einer großbürgerlichen Familie, in der religiöse Traditionen keine Rolle spielten. Felix Ganz hatte sich sogar der christlichen Religion zugewendet. Doch für die nationalsozialistischen Machthaber spielte das keine Rolle: Für sie waren es Juden, Angehörige einer minderwertigen Rasse. Als Juden wurden sie bestohlen, gedemütigt und ermordet.

Deutschland hat sich 1998 durch die Washingtoner Erklärung verpflichtet, Aufklärungsarbeit zu leisten, die rechtmäßigen Eigentümer zu finden und sich mit ihnen zu einigen. In vielen Museen wurden Forschungsstellen eingerichtet, welche die Herkunfts- und Eigentumsverhältnisse überprüfen, so auch im Landesmuseum Mainz. Diese Arbeit kann als Wiedergutmachung einer moralischen Schuld verstanden werden. Sie ist aber auch eine Bezeugung des Respektes gegenüber den Opfern, die einmal unsere Mitbürger waren.

Unsere erste Station ist keine zweihundert Meter entfernt: Wenn Sie vor dem Haupteingang des Landesmuseums stehen, sehen Sie rechts eine Kirche. Gehen Sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie überqueren eine kleine Seitenstraße. Das Haus „Große Bleiche 39“ ist nur wenige Meter weiter, an der Ecke Große Bleiche / Schießgartenstraße.

2: Das "Judenhaus", Große Bleiche 39

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Deutsches Reichsgesetzblatt
Deutsches Reichsgesetzblatt

Durch die Zerstörung des zweiten Weltkrieges und durch den schnellen Wiederaufbau nach dem Krieg hat das heutige Mainz ein anderes Aussehen als zur Zeit des Nationalsozialismus. Viele Spuren sind verwischt, so auch hier am Haus Große Bleiche 39. Vor dem Bombenkrieg gab es hinter dem Vorderhaus Nr. 39 noch ein weiteres Haus, ein Hinterhaus.

In diesem Haus lebte Karoline Weis. Sie hinterließ kein Tagebuch, keine Memoiren. Das einzige, was sie hinterließ, sind die Grafiken, die heute im Landesmuseum aufbewahrt werden. Wir wissen nicht einmal, wie sie aussah, denn es gibt kein Foto von Karoline Weis. Erinnerungsfotos werden üblicherweise in unseren Familien weitergegeben. Nach dem Holocaust, nach 1945, gab es keine Familie Weis mehr in Mainz. Ob die Familie von Frau Weis Erinnerungen an Karoline bewahrt hat, wissen wir nicht. Was wir von Frau Weis wissen, hat die Provenienzforscherin des Landesmuseums Mainz, Dorothee Glawe, aus Akten zusammengesucht. Die trockene Sprache der Akten und Behörden lassen das Leben eines Menschen kaum anschaulich werden. Wir versuchen es trotzdem!

Karoline Weis wurde 1880 in Mainz geboren. Sie hatte sieben Geschwister, drei Schwestern und vier Brüder. Ihr Vater Emanuel Weis war Antiquitätenhändler in Mainz, ihre Mutter Rosine Weis, geborene Löser, stammte aus Laufersweiler, einer Landgemeinde im Hunsrück. Als Karoline Weis in das Hinterhaus der Nummer 39 in der Großen Bleiche zog, war sie schon Anfang Sechzig und unverheiratet.

Dieses Hinterhaus war in der Verwaltungssprache des nationalsozialistischen Deutschland ein Judenhaus. Die nationalsozialistischen Behörden richteten seit 1939 Judenhäuser ein.

Auch Karoline Weis wurde gezwungen, umzuziehen und ihre eigene Wohnung zu verlassen. Die Behörden wiesen ihr die neue Wohnung zu. Ihre Nachbarn konnte sie sich nicht aussuchen. Manchmal wurden selbst Familien nicht im selben Haus untergebracht. Die Judenhäuser waren bald überfüllt. Als auch noch die jüdische Bevölkerung aus dem Umland nach Mainz umquartiert wurde, verschlechterte sich die Lage zunehmend.

Karoline Weis hatte Glück. Sie musste sich das Zimmer nicht mit einem Fremden teilen. Sie wohnte mit ihrem Bruder Ludwig zusammen. Die Kennkarte von Ludwig Weis findet man hier:

https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0258.pdf

Karoline Weis musste seit 1941 einen Judenstern tragen, wenn sie das Haus verließ.

https://faust.mainz.de/objekt_start.fau?prj=internet&dm=archiv&zeig=62222

Auch die Eingangstür des Hinterhauses in der Großen Bleiche war mit einem Davidstern gekennzeichnet. Die Absicht der nationalsozialistischen Behörden war die völlige Isolierung der Juden von ihrer Umgebung und ihre lückenlose Überwachung.

An der nächsten Station berichten wir aus der Geschichte der Juden in Mainz. Überquert man die Große Bleiche und geht in die Klarastraße findet man noch einige alte Häuser vor, die erahnen lassen, wie diese Straßen vor der Zerstörung ausgesehen haben. Nach der nächsten Kreuzung sind es nur noch wenige Schritte zu einer Gedenktafel auf der linken Seite, der Gedenktafel für die Judenwache. Hier verlässt unser Spaziergang kurz die Zeit der Karoline Weis und beleuchtet Hintergründe.

3: Die ehemalige Judenwache, Klarastraße

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Aquarellbild Motiv Hochzeitszug
Hochzeitszug in der Mainzer Judengasse 1690, Reproduktion nach einem Aquarell im Besitz von A. M. Keim

An dieser Stelle stand ein Gebäude, das man „Judenwache“ nannte. Die Stadtwache bewachte hier den Zugang zur Judengasse, dem Mainzer Judenghetto. Diese  Judengasse wurde im späten siebzehnten Jahrhundert unter dem Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn eingerichtet.

Juden durften jahrhundertelang nur hier wohnen. Das Viertel war dicht bevölkert und dunkel. Abends gab es eine Ausgangssperre. Auch an hohen christlichen Feiertagen durfte niemand das Viertel verlassen. Juden lebten hier getrennt von der christlichen Bevölkerung. Aber die Mauern des Viertels bedeuteten auch Schutz vor dem Judenhass der christlichen Bevölkerung, vor Ausschreitungen, vor Pogromen und vor den alltäglichen Beleidigungen und Demütigungen.

So war es bis 1792, als die Truppen der französischen Revolution nach Mainz kamen. Denn der Ruf der Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollte für alle Menschen gelten, auch für Juden. Die Tore des Ghettos wurden niedergerissen. Als Karoline Weis 1880 geboren wurde, stand die Judenwache schon lange nicht mehr, aber hier im alten Judenviertel waren die Wurzeln der Mainzer Juden.

Im neunzehnten Jahrhundert wurden die Juden in Deutschland der christlichen Bevölkerung allmählich rechtlich gleichgestellt. Für viele Juden begann ein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg. Doch obwohl sich die Juden immer weiter der christlichen Bevölkerung annäherten, die Kultur übernahmen und sich assimilierten, verschwand der Judenhass nicht. Er erlebte sogar eine theoretische Radikalisierung: Der moderne Antisemitismus entstand.

Im traditionellen christlichen Sinne war ein Jude der Angehörige einer anderen Religion, der durch die Taufe zum Christen werden konnte. Ein Antisemit dagegen argumentiert anders, rassistisch: „Ein Jude gehöre zu einer anderen und minderwertigen Rasse und kann niemals zur eigenen Rasse gehören.“ Als Karoline Weis jung war und sie zur Schule ging, herrschte dieser Antisemitismus im Kreis einer kleinen Minderheit in Deutschland. Das sollte sich ändern, spätestens mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler.

Unser Spaziergang führt die Klarastraße einige Meter zurück und nach rechts in die Vordere Synagogengasse. Achten Sie auf die Mauerreste auf der rechten Seite. Große Tafeln zeigen hier die ehemalige Fassade der alten Hauptsynagoge.

4: Alte Hauptsynagoge, Vordere Synagogenstraße

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Alte Hauptsynagoge in Mainz 1853
Alte Hauptsynagoge in Mainz 1853

Hier inmitten des jüdischen Viertels stand die alte Mainzer Hauptsynagoge.

Als die Mainzer Juden im neunzehnten Jahrhundert von den Fesseln der Unterdrückung befreit waren, erlebte die jüdische Gemeinde einen Aufschwung. Der Vorgängerbau aus der Barockzeit war für die Mainzer Gemeinde schon lange zu klein geworden. Ein Neubau sollte die Bedeutung der aufstrebenden Gemeinschaft demonstrieren.

Die Entwürfe für die Synagoge stammen von dem Architekten Ignaz Opfermann. Die ersten Entwürfe zeigen einen Bau mit exotischen Bauformen. Dieser maurische Stil war fremdartig, aber er betonte die Herkunft der Juden aus dem Orient und zeigte die Eigenständigkeit der jüdischen Religion im christlichen Umfeld. Als die Synagoge dann 1853 fertiggestellt war, hatte sich die jüdische Gemeinde für eine Mischung von maurischen und europäischen Formen entschieden.

In der Synagoge war eine Orgel, was Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch etwas Neues für die jüdischen Gemeinden war. Für die fortschrittlichen Gemeindemitglieder stand die Orgel für die Öffnung der jüdischen Religion, hin zur Mehrheitsbevölkerung, hin zur neuen Zeit. Die Traditionalisten sahen darin nur eine Übernahme christlicher Bräuche. Sie lehnten die Orgel deshalb ab. Fast hätte sich die Mainzer Gemeinde am Orgelstreit gespalten, doch es kam zu einem Kompromiss. Die Einheit der Gemeinde blieb formal bestehen und die Traditionalisten bauten ihre eigene, die orthodoxe Synagoge.

Die reformorientierten Juden feierten bis 1912 ihre Gottesdienste in der Hauptsynagoge. Dann war auch dieses Gotteshaus zu klein und eine neue Synagoge entstand. Die neue Synagoge erbaute die Gemeinde in dem damals modernen Teil der Stadt, in der Neustadt. Die Synagoge hier wurde von der Gemeinde verkauft und dann als Lagerhaus verwendet. 1942 wurde das Gebäude durch Bomben zerstört und die Ruinen wurden in der Nachkriegszeit abgetragen.

Nur wenige Schritte weiter, auf der linken Straßenseite, erinnert eine Tafel an die zweite jüdische Synagoge.

5: Die orthodoxe Synagoge in der Flachsmarktstraße / Margaretenstraße

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Brennende orthodoxe Synagoge
Brennende orthodoxe Synagoge

Die orthodoxe Synagoge wurde 1877 fertiggestellt. Der Architekt war Eduard Kreyßig, von dem auch die Planungen der Mainzer Neustadt stammten. Die von Kreyßig entworfene Synagoge war wie die Hauptsynagoge im maurischen Stil gebaut. Die Zeitgenossen waren beeindruckt. Die Synagoge erschien „äußerlich wie innerlich als ein wahres Schmuckkästchen“. Einen Eindruck von dem Formenreichtum dieser Synagoge vermittelt noch heute die jüdische Trauerhalle auf dem neuen jüdischen Friedhof neben der, die der Architekt Eduard Kreißig wenige Jahre später erbaute. Die Synagoge war nicht nur ein Gebetshaus der Mainzer Gemeinde. In einem Seitentrakt war eine Schule untergebracht. Und in einem anderen Raum beteten seit den zwanziger Jahren jüdische Einwanderer aus Osteuropa.

1938 kam mit den November-Pogromen das Ende der Synagoge. In der Nacht vom 9. zum 10. November erschienen Trupps von SA- und SS-Männer vor allen Mainzer Synagogen. Die Männer trugen schwarze Benzinkanister mit sich. Sie setzten die orthodoxe Synagoge und die angrenzende Schule in Brand. Weder Polizei noch Feuerwehr griffen ein.

Da die orthodoxe Synagoge inmitten von Wohnhäusern stand, hatte man Angst, dass das Feuer auf die umliegenden Häuser überspringt. Deshalb löschte man das brennende Mobiliar, bevor das ganze Gebäude Feuer fing.

Die Zerstörung der Synagogen war nur der Auftakt zu weiteren Gewalttaten. In der ganzen Stadt zerstörten SA-Männer, SS-Männer und Hitlerjungen jüdische Geschäfte und Wohnungen. Sie stahlen aus den Geschäften ebenso wie aus den Wohnungen. Die jüdischen Bewohner wurden bedroht und misshandelt. Am Morgen des zehnten November wurden Schulklassen zu den ausgebrannten Synagogen geführt. Die Lehrer nannten das zynisch „Anschauungsunterricht in Rassenkunde“. Über hundert jüdische Männer wurden in Mainz verhaftet, ohne Begründung, ohne Anklage. Sie wurden in das KZ Buchenwald oder in das KZ Dachau gebracht, wo sie über Monate blieben.

Wir wissen nicht, wie Karoline Weis diese Tage und Nächte 1938 erlebte. Deshalb möchten wir einer anderen Stimme Gehör verschaffen. Gerti Salomon war auch eine Mainzer Jüdin und 1938 zwanzig Jahre alt. Nach der Nazi-Diktatur schrieb sie ihre Erinnerungen nieder (Zitat gemäß Meyer-Jorgensen, Gerti: Hier sind meine Wurzeln, hier bin ich zu Haus. Das Leben der Gerti-Meyer-Jorgensen, geborene Salomon, Mainz 2010, S. 51):

„Ich hatte Angst. Ich erinnere mich, dass ich zitternd in meinem Bett lag, wenn wieder einmal eine Horde SA-Männer grölend durch die Hindenburgstraße zog: ‚Wenn das Judenblut / vom Messer spritzt / dann geht’s noch mal so gut!‘ Das sind Erinnerungen, die so tief wurzeln, dass du sie nicht mehr loswirst.

Auch die persönlichen Anfeindungen nahmen zu. Ein Junge, mit dem ich drei Jahre die Schulbank … gedrückt hatte, zischte mir im Vorübergehen zu: ‚Dreckige Judensau, hoffentlich verreckst du bald!‘“

Antisemitische Beschimpfungen und Beleidigungen wurden in der Nazi-Diktatur zu alltäglichen Erfahrungen der jüdischen Mitbürger. Auch Karoline Weis sollte das erleben.

6: Das Wohnhaus der Karoline Weis in der Emmeransstraße 45

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Ein Fragebogen zu Karoline Weis
Fragebogen zu Karoline Weis, 26. August 1936, Bestand J44 Amtsgericht Mainz, 02.02.02.03, Verfahren 1064, Karoline Weis, Landesarchiv Speyer, Blatt 11v.

Parallel zur Margarethenstraße verläuft die Emmeransstraße. Hier, im Haus Nr. 45, lebte Karoline Weis. Das Haus ist nicht erhalten. Es stand auf der rechten Seite, dort, wo heute die Bäume stehen.

In diesem Umfeld musste Karoline Weis musste den alltäglichen Antisemitismus im Sommer 1936 bitter erfahren. Die Wohnung in der Walpodenstraße hatte sie aufgeben müssen. Wie Gerti Salomon erlebte sie Anfeindungen und Beschimpfungen, wollte sich dem jedoch nicht aussetzen und wehrte sich. Es kam zum Nachbarschaftsstreit, zu Beschimpfungen und Beleidigungen. Frau Weis musste sich als „Saumensch“ diffamieren lassen, wurde unter Drohungen von der Straße verjagt. Karoline Weis erhob Anklage. Rechtsanwälte wurden bestellt, Zeugen sollten vernommen werden. Die erhaltenen Gerichtsakten zeigen den unverhohlenen Antisemitismus der Beteiligten. Der gegnerische Anwalt forderte die Einstellung des Verfahrens, denn:

„ … die Klägerin ist Jüdin, ist als solche in letzter Zeit sehr misslich aufgefallen. Selbst die eigenen Glaubensgenossen rückten von ihr ab, was schon viel heißen will.“

Außerdem sei Frau Weis ja auch arm und von der öffentlichen Prozesskostenhilfe abhängig. Ein Prozess verursache Kosten, die die Staatskassen tragen müssten. Der Streit mit ihren Nachbarn belastete Karoline Weis. Dem Gericht teilte sie mit, dass sie vorübergehend zu ihren Verwandten nach Frankfurt ziehe. So verschaffte sie sich Abstand zu ihren boshaften Nachbarn.

Die Klage der Karoline Weis klingt oberflächlich gesehen, wie ein ganz normaler Nachbarschaftsstreit. Doch 1936 war ein Streit zwischen einem Juden und einem Nichtjuden nichts rein Persönliches mehr, sondern auch politisch. Juden erlebten die nationalsozialistische Diktatur als eine Zeit fortlaufender Demütigungen. Die Behörden erfanden immer neue antisemitische Bestimmungen. Ein früher Höhepunkt waren die Nürnberger Gesetze von 1935. Sie bestimmten, dass Juden keine gleichberechtigten Bürger mehr waren. Sie waren nun keine „Reichsbürger“ mehr, sondern nur noch: „Staatsangehörige“.

Viele ganz normale Deutsche merkten, dass sie Juden ungestraft demütigen konnten, gedeckt von der Staatsmacht, und viele nutzten das aus.

Die Klage der Frau Weis verlief im Sand. Karoline Weis zog noch im Herbst in eine neue Wohnung in der Zanggasse 22.

Um eine Vorstellung zu erhalten, wie dieses Viertel vor dem Krieg aussah, schaut man sich die vergrößerten historischen Fotos am verglasten Erdgeschoss des Hauses Nr. 38 auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Auch dieser Teil der Mainzer Altstadt sah damals aus wie ein gemütliches Quartier.

Der heutige Kaufhof ist die nächste Station des Spaziergangs. Dorthin gelangt man, wenn man links in die Ottiliengasse geht, so dass man rechterhand die Rückseite des Dalberger Hofes hat. Im Dalberger Hof war in der NS-Zeit das Polizeipräsidium mit seinem gefürchteten Polizeigefängnis. Schließlich kommt man in die Schusterstraße und zum Haupteingang des Warenhauses Kaufhof.

7: Das Kaufhaus Tietz, heute Kaufhof

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Kaufhofgebäude vor 1942
Der Kaufhof vor 1942

Als Karoline Weis hier lebte, stand auch ein Kaufhaus an dieser Stelle: Das Kaufhaus Tietz. Das Kaufhaus Tietz hatte jüdische Besitzer und geriet so in das Fadenkreuz der Nationalsozialisten. In der nationalsozialistischen Überzeugung war der Antisemitismus ein zentraler Punkt. Gemäß der Vorstellung der Nationalsozialisten sollten Juden aus der deutschen Gesellschaft verschwinden. Mit dem Verschwinden der Juden sollten sich dann alle gesellschaftlichen Probleme in Deutschland auflösen.

1933 erreichten die Nationalsozialisten einen großen Wahlsieg. Sie begannen sofort mit der Errichtung der Diktatur. Damit begann auch die Unterdrückung der Juden.

1933 am Abend des 9. März, einem Donnerstag, erschienen hier SA-Männer und bedrängten die Kunden das Geschäft zu verlassen oder hinderten sie am Betreten. Dieser erste Boykott in Mainz endete erst nach sechs Tagen. Zwei Wochen später, am 1. April 1933 gab es einen zweiten Boykott, diesmal nicht nur in Mainz, sondern in ganz Deutschland. Wieder erschienen SA-Leute, wieder bedrängten sie die Kunden. Diesmal traf der Boykott auch Ärzte und Rechtsanwälte. Doch dieser Boykott endete offiziell schon nach einem Tag. Die Machthaber befürchteten negative Reaktionen aus dem Ausland mit Auswirkungen auf den deutschen Export.

Der Druck der Nationalsozialisten auf jüdische Gewerbetreibende blieb bestehen. Auch die Leonhard Tietz-AG konnte nicht standhalten. Das Unternehmen blieb im Visier der Nationalsozialisten. Die jüdischen Vorstandmitglieder wurden aus dem Vorstand entfernt und Alfred Leonhard Tietz musste die Geschäftsführung des Warenhauskonzerns abgeben. Die Kaufhäuser erhielten einen neuen Namen. Aus „Ludwig Tietz“ wurde „Westdeutscher Kaufhof“, ab 1953 einfach Kaufhof genannt.

Juden wurden bis zum Ende der dreißiger Jahre völlig aus der Wirtschaft verdrängt. Diese Vorgänge nannte man damals Arisierung oder Entjudung. Typische Vorgehensweise: Jüdische Besitzer wurden zum Verkauf gezwungen, bezahlt wurde, wenn überhaupt, nur ein Spottpreis. Der Käufer war dann ein Nichtjude, ein sogenannter Arier - oft genug ein einflussreicher Nationalsozialist. In Mainz gab es ungefähr dreihundertdreißig Firmen in jüdischem Besitz. Fast die Hälfe aller berufstätigen Juden in Mainz waren Selbstständige. Die jüdischen Geschäftsleute verloren ihre Betriebe, und nach 1938 mussten die letzten jüdischen Selbstständigen aufgeben.

Die Verdrängung aus dem wirtschaftlichen Leben betraf nicht nur Selbständige. Ab 1933 wurden jüdische Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst entfernt. Es traf den Leiter der Mainzer Gesundheitsbehörde, Heinrich Rosenhaupt oder den Kustos der Mainzer Gemäldegalerie, Rudolf  Busch, aber auch Lehrer, wie zum Beispiel Johanna Sichel, die in der Höheren Mädchenschule Anna Seghers unterrichtet hatte. Die Verordnungen breiteten sich aus, es gab immer mehr Berufsverbote. Jüdische Rechtsanwälte durften nicht mehr vor Gericht, jüdische Ärzte durften ihre nichtjüdischen Patienten nicht mehr behandeln.

Mit den Berufsverboten und der Arisierung war vielen Juden die Lebensgrundlage entzogen. Sie mussten vom Ersparten leben und begannen, ihren Besitz zu verkaufen. Viele deutsche Juden konnten ihren Lebensunterhalt nur durch fremde Hilfe bestreiten. Auch Karoline Weis konnte nach 1936 ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst bestreiten. Sie wurde von ihren Geschwistern unterstützt.

Geht man die Schusterstraße weiter entlang und durch die Fußgängerzone, so erreicht man den Dom und den Marktplatz. Wenn man sich dort nach links wendet, den Marktbrunnen und  die Heunensäule passiert, dann steht man auf dem Liebfrauenplatz. Hier kann man Marktszenen erleben, wie sie auf dem Aquarell von Alfred Mumbächer zu sehen sind, das einst Karoline Weis gehörte.

8: Der Domplatz und die Kunstwerke der Karoline Weis

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Gemälde, Verkaufsstände auf einem Platz
Alfred Mumbächer, Verkaufsstände auf dem Liebfrauenplatz

In den Jahren 1933 und 1935 hat die Gemäldegalerie Mainz, die Vorgängerinstitution des Landesmuseums, einige Kunstwerke aus der Sammlung von Karoline Weis erworben. Diese Sammlung besteht aus mehreren Aquarellen und Kreidezeichnungen, die regionale Darstellungen zeigen. Die meisten Objekte stammen von dem Mainzer Künstler Johann Manefeld. Das bedeutendste Werk der Sammlung ist ein Aquarell von Alfred Mumbächer und zeigt eine Marktszene.

Alfred Mumbächer war einer der berühmtesten Mainzer Maler des zwanzigsten Jahrhunderts. Er wählte vor allem Stadtansichten und Landschaften aus der Region als Motiv. Das Bild, das Karoline Weis dem Landesmuseum verkauft hat, ist ein Aquarell. Es zeigt eine Marktszene hier auf dem Liebfrauenplatz. Mumbächer schafft es eine Szene von Mainz einzufangen, die zwar lebendig und geschäftig wirkt, aber trotzdem nicht hektisch. Es strahlt eine Ruhe und Gemütlichkeit aus und wirkt idyllisch. Durch die unklaren, fast vibrierenden Linien gewinnt man den Eindruck, das Marktgeschehen aus der Distanz zu beobachten, was wiederum das Zusammenspiel von Lebendigkeit und Ruhe unterstützt.

Auf den Kunstwerken aus der ehemaligen Sammlung von Karoline Weis sind kaum Hinweise auf die Provenienz zu finden. Die Ausnahme sind drei Blätter des Künstlers Manefeld.  Auf der Rückseite der Bilder ist ein Monogramm: K.W. →  Karoline Weis. Anhand von Unterschriften von Karoline Weis ist dieses Monogramm eindeutig auf sie zurückzuführen.

Ihre Kunstsammlung lässt darauf schließen, dass sie sich eng mit der Mainzer Region verbunden sah. Die Bilder könnten als idyllische Sehnsuchtsorte verstanden werden. Sie entsprechen damit dem Geschmack vieler Sammler und dem Zeitgeist. Karoline Weis war eine Kunstliebhaberin wie viele andere. Man kann nur spekulieren, warum sie diese Bilder verkauft hat. Es ist möglich, dass Karoline Weis durch die Nazis gezwungen wurde, die Bilder zu verkaufen. Oder sie musste ihre Sammlung abgeben, um schnell an Geld zu kommen. Es gibt Belege dafür, dass sie in Geldnot war.

9: Der Liebfrauenplatz und die Nagelsäule

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Nagelsäule
Nagelsäule

Hier auf dem Liebfrauenplatz steht, umgeben von einem Metallgitter und drei Steinsäulen, eine sieben Meter hohe Säule, die Nagelsäule.

Schauen Sie sich die Nagelsäule genau an: Sie erkennen tausende Nagelköpfe und einige verwitterte Reliefs. Die Nagelköpfe ergeben Schriftzüge und Sinnsprüche mit oft patriotischen Inhalten.

Die Nagelsäule war 1916 mitten im ersten Weltkrieg errichtet worden. Wer wollte, konnte einen Nagel kaufen und ihn in die hölzerne Säule schlagen lassen. Der Erlös war für einen humanitären Zweck bestimmt: Die Spenden sollten die notleidende Bevölkerung im zweiten Kriegsjahr unterstützen. Rund dreißigtausend Menschen beteiligten sich damals an der Spendenaktion. Ein einfacher Nagel war für eine Reichsmark zu haben,  ein Nagel mit einem vergoldeten Kopf kostete zwanzig Reichsmark.

Auch viele jüdische Mainzer beteiligten sich an dieser Aktion. Sie wollten damit ihr soziales Engagement zeigen, sahen ihre Beteiligung aber auch als ihre nationale Pflicht, denn viele Juden verstanden sich als patriotische Deutsche. Das Verzeichnis der Spender ist im Stadtarchiv erhalten. Der Eintrag mit der Nummer 192 verzeichnet die damals 15-jährige Netty Reiling, die spätere Schriftstellerin Anna Seghers. Viele Vereine, Firmen und Verbände beteiligten sich. Die katholische Kirche stiftete eine Rosette und ein Bild des Heiligen Bonifazius, die evangelische Kirche eine Lutherrose und ein Christusmonogramm. Auch die jüdische Gemeinde beteiligte sich. Davon sind noch heute Spuren zu finden.

Im mittleren Bereich der Säule befinden sich drei Bänder mit Bildern. In der unteren Bilderzone findet man das Bild einer Frau, die Brot für zwei kleine Kinder schneidet. Zu ihren Füßen befindet sich ein Davidstern. In dem Band über der Frau ist noch eine Inschrift zu erahnen. Hier steht in hebräischen Buchstaben: „Die Wahrheit und den Frieden sollt ihr lieben“, ein Zitat aus dem hebräischen Tanach. Dieses Zitat gehört auch zur christlichen Bibel.

Die Nagelsäule zeigt wie kaum ein anderes Zeugnis in Mainz die erfolgreiche Assimilation der Juden in Deutschland. Juden in Deutschland verstanden sich als Deutsche, als Deutsche jüdischer Konfession.

Der Antisemitismus war im frühen zwanzigsten Jahrhundert nicht verschwunden. Doch viele jüdische Deutsche hielten den Antisemitismus für eine Erscheinung der Vergangenheit, die bald verschwinden würde.

Wendet man sich zurück, überquert den Marktplatz und das „Höfchen“, kommt man zur Fuststraße, wo heute die Fußgängerzone endet.  Auf der linken Seite bestand bis 2019 das Schuhhaus Schlüter. Bis 1936 war hier das Schuhhaus Manes.

10: Schuhhaus Manes in der Schöfferstraße 9

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Das Schuhhaus Manes war seit drei Generationen im Besitz einer jüdischen Familie. Vom Großvater Lambert Manes gegründet, war es 1930 im Besitz des Enkels, Friedrich Salomon. Der Machtantritt der Nationalsozialisten veränderte auch das Leben der Familie Salomon.

Gerti Salomon berichtete nach dem Krieg von diesen Jahren, die sie als Jugendliche erlebte (ebenda, S. 46):

„Das Geschäft [meines Vaters] lief gut, bis zu jenem 1. April 1933, dem Tag des Boykotts. Seit dem Boykott […] blieb die Kundschaft aus. Zudem entpuppten sich viele Angestellte, die mein Vater ausgebildet hatte, als überzeugte Nazis, die jede geschäftliche Aktion meines Vaters argwöhnisch beobachteten. Die Hetze gegen die Juden nahm zu. Nicht nur in den einschlägigen Partei-Gazetten wie dem „Völkischen Beobachter“ und dem „Stürmer“. Auch die größte Mainzer Lokalzeitung, der „Mainzer Anzeiger“, hatte längst die Diktion der braunen Herren übernommen. Irgendwann sah mein Vater ein, dass er das Geschäft nicht weiterführen konnte. 1936 verkaufte er das traditionsreiche Schuhhaus an seine Direktrice Anni Schlüter. Es war ein faires Geschäft, wenn man damals noch von fairen Geschäften sprechen konnte. [...] Mein Vater hat unter dem Verkauf der Geschäfte sehr gelitten. Sein Lebenswerk, der Inhalt seines Lebens war dahin.“

Ein kommentiertes Foto des Schuhhaus Manes von 1919 findet man hier: https://stolpersteine-guide.de/map/biografie/871/anny-salomon

Der älteste Sohn der Familie Salomon flüchtete 1936 nach Südafrika. Die Eltern und Gerti Salomon blieben in Deutschland und erlebten in den nächsten Jahren Diskriminierungen, Unterdrückungen und die Gewalt der Novemberpogrome.

Fritz Salomon dachte nicht an Flucht. Er hoffte lange, dass der braune Spuk bald vorbei sei - bis zum Frühsommer 1939, wenige Monate vor dem Beginn des zweiten Weltkrieges. Nun schien auch Fritz Salomon an eine Flucht aus Nazi-Deutschland zu denken. Dafür benötigte er Geld: für die Reisekosten, die Gebühren und zu hinterlegenden Sicherheiten, für ein Startkapital zum Neuanfang. Doch die Nationalsozialisten behinderten die Vorbereitungen. Schikanen wie „Reichsfluchtsteuer“ oder „Sperrmark-Konten“ sorgten dafür, dass den Flüchtenden möglichst viel von ihrem Geld abgenommen wurde. Fritz Salomon kam auf den Gedanken, einen Teil seines Geldes illegal ins Ausland zu schmuggeln. Über einen Mittelsmann sollte seine einundzwanzigjährige Tochter Gerti zweitausend Reichsmark ins Ausland schaffen. Die Sache flog auf! Fritz Salomon wurde in die Mainzer Gestapo-Stelle in der Kaiserstraße 31 bestellt. Nach diesem Besuch nahm er Zyankali. Er starb am 23. Juni 1939.

Ein Foto von Fritz Salomon aus dem Jahr 1939 findet sich hier: https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0676.pdf

Gerti Salomon wurde festgenommen und blieb sechzehn Monate in Haft. Nach ihrer Entlassung floh Gerti völlig mittellos. Über abenteuerliche Wege gelangte sie nach China, nach Schanghai. Dort überlebte Gerti Salomon den Holocaust.

Wer sie in einem Gesprächsauszug erleben möchte, der sehe hier nach: https://www.youtube.com/watch?v=B3agPznYuz0

Ihr autobiografisches Buch „Hier sind meine Wurzeln, hier bin ich zuhause“ erschien 2010, also knapp 20 Jahre nach diesem Interview.

Gertis Mutter, Anny Salomon, blieb in Mainz. Sie wurde, wie Karoline Weis, im März 1942 nach Polen deportiert. Die Deportationslisten mit Angaben zu den „Abgewanderten“ aus den Jahren 1942-43 aus dem Nachlass von Michel Oppenheim findet man hier: https://faust.mainz.de/document_start.fau?prj=internet&dm=archiv&ipos=1&zeig=63348

Ende März 1942 erhielten Anny Salomon und Karoline Weis die Mitteilung, dass sie in drei Stunden ihre Wohnung zu verlassen hätten. Sie seien „vorläufig festgenommen“ und sollten für den Abtransport packen. Sie durften einen Koffer oder einen Rucksack mit höchstens fünfzig Kilogramm Gewicht und fünfzig Reichsmark mitnehmen. Außerdem sollten sie ein Schild mit ihrem Namen, Geburtsdatum und der Nummer ihres Ausweises um den Hals tragen. Sie wurden zur Feldbergschule gebracht, wo in dieser Nacht in der Turnhalle der Schule neben Karoline Weis hunderte Menschen auf den nächsten Morgen warteten. Im Morgengrauen wurden sie zum Güterbahnhof an der Mombacher Straße gebracht und bestiegen einen Zug. In Darmstadt stiegen weitere Menschen zu. Ziel der Fahrt war das von Deutschland besetzte Polen, die Kleinstadt Piaski im Bezirk Lublin.

In Piaski hatte die deutsche Besatzungsmacht das jüdische Viertel zu einem Internierungslager gemacht. Für diese Internierungslager fanden sie den verharmlosenden Namen „Wohnbezirk“ oder „Ghetto“. Im Ghetto Piaski waren Juden aus Polen, Deutschland und der Tschechoslowakei untergebracht. Da das Ghetto überfüllt war, brachten die deutschen Behörden einen Teil der Bewohner weg. Es traf die Juden aus Polen: Sie wurden ins Vernichtungslager Belzec gebracht. Martha Bauchwitz aus Stettin war seit 1940 im Ghetto Piaski. Sie war Zeugin der Ankunft des neuen Transports. In einem Brief an ihre Tochter schrieb sie: „Die Tausendfünfhundert aus Mainz, Worms und Darmstadt sind in die Wohnungen der „Verreisten“ gekommen. Sie haben keinen Pfennig Geld! Man erzählt, viele seien unterwegs gestorben.“

Die Spuren von Karoline Weis und Anny Salomon verlieren sich hier in Piaski. Wir wissen nicht, ob sie im Ghetto gestorben sind. Dort waren zu dieser Zeit Hunger und Krankheiten die häufigste Todesursache. Oder wurden sie nach Sobibor gebracht, ein Vernichtungslager, in dem man Menschen mit Motorabgasen erstickte? Wir wissen nur: Aus Piaski kehrte niemand mehr nach Mainz zurück.

Kehrt man dem ehemaligen Schuhhaus Manes den Rücken und geht über den Gutenbergplatz mit seinem Denkmal am Theater vorbei die Ludwigstraße entlang, kommt man zum Schillerplatz. Verbunden mit dem Schillerplatz und einem stattlichen Gebäude dort, ist der Name eines anderen Mainzers: Der des Kunstsammlers und Geschäftsmannes Felix Ganz.

11: Felix Ganz und das Haus am Schillerplatz 2

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Im Eckhaus, das heute ein Café beherbergt, war vor dem zweiten Weltkrieg ein Geschäft für Teppiche. Hier war der Hoflieferant „Ludwig Ganz - Teppich Ganz“. Schon vor dem ersten Weltkrieg war das Unternehmen einer der größten Importeure für Teppiche in Deutschland. Felix Ganz erbte das Geschäft von seinem Vater und baute es weiter aus.

Felix Ganz war nicht nur Unternehmer, er war auch Kulturmäzen: Er unterstützte die Mainzer Liedertafel, den Mainzer Altertumsverein, das Römisch-Germanische Museum - ein Mainzer mit Engagement für seine Heimatstadt.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, zählte das alles nichts mehr, denn Felix Ganz hatte jüdische Vorfahren. Er hatte zwar sich und seine Kinder taufen lassen, doch in der rassistischen Weltanschauung der Nationalsozialisten blieb er Jude. Auch, dass er als Soldat im ersten Weltkrieg für Deutschland kämpfte, sollte ihm wenig nutzen. Sein Geschäft wurde „arisiert“, das heißt, er musste sein Geschäft zwangsweise an seinen nichtjüdischen Prokuristen übergeben.

Seine Familie wurde verfolgt, sein Enkel Peter Ganz wurde 1938 in das KZ Buchenwald verschleppt. Die Familie Ganz floh daraufhin aus Nazi-Deutschland nach England und in die Schweiz. Nur Felix Ganz und seine Frau blieben. Sie mussten 1941 ihr Haus am heutigen Volkspark verlassen und ein Gestapo-Beamter zog ein. Auch Felix Ganz musste in ein Judenhaus ziehen. Am 27. 09.1942 wurde Felix dreiundsiebzig Jahre alt - es war der Tag seiner Deportation in das KZ Theresienstadt. Zwei Jahre später wurden Felix Ganz und seine Frau Erna in Auschwitz ermordet.

Felix Ganz hatte eine große Kunstsammlung. Die Kunstsammlung ist bis heute verschwunden, doch es wird gesucht. Ein Forschungsprojekt an der Universität Mainz, welches durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gefördert wird, fahndet mit Hilfe des Urenkels von Felix Ganz in Deutschland und international. Doch bisher gibt es nur wenige Erfolge.

Das Landesmuseum Mainz besitzt ein paar Kunstwerke aus dem Wohnhaus von Felix Ganz, zum Beispiel eine Barockkommode aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein Gemälde von Konrad Sutter. Auch dies weiß man durch die Provenienzforschung am Museum.

Was geschah mit den Kunstwerken der jüdischen Kunstsammler? Hierfür spielte das Finanzamt eine zentrale Rolle. Die Zweigstelle des Finanzamtes für Mainz Mitte befindet sich bis heute am Münsterplatz. Auf dem Weg dorthin passiert man das Schillerdenkmal und den Schönborner Hof. Der Schönborner Hof war seit 1933 Sitz der NSDAP-Kreisleitung und mehrerer NS-Organisationen. Vorbei am Proviantamt erreicht man am Ende der Schillerstraße die erwähnte Zweigstelle im Haus Nr. 13, kurz vor dem Münsterplatz.

12: Das Finanzamt in der Schillerstr. 13

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Mit diesem Gebäude und dem benachbartem Telehaus zog Anfang der Dreißiger Jahre das moderne Bauen in die Mainzer Altstadt ein. Das Eingangsportal bewacht seitdem ein Reichsadler. Bei der Fertigstellung 1931 war er noch Symbol des demokratischen Deutschlands. Doch bald wurden die Reichsadler durch das Hakenkreuz ergänzt und zum Symbol der Diktatur.

Finanzämter spielten in der Zeit des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle bei den Ausplünderungen der jüdischen Bevölkerung. Sie organisierten die Besteuerung der Flüchtlinge aus Nazideutschland und erhoben die „Reichsfluchtsteuer“. Das Geld, das bei den Zwangsverkäufen der sogenannten Arisierungen bezahlt wurde, wurde auf Sperrkonten eingezahlt. Das zuständige Finanzamt überwachte die Konten und setzte den monatlichen Betrag fest, über den die jüdischen Verkäufer verfügen durften. Finanzämter zogen die Sondersteuern für Juden ein. Die sogenannte „Judenvermögensabgabe“ war besonders zynisch, denn nach den Novemberpogromen sollten Juden, also die Opfer selbst, für die  Aufräumarbeiten und die Beseitigung der Ruinen zahlen. Ein Gesetz von 1941 machte die Ausbeutung komplett. Alle Juden, die Deutschland verließen, auch die Zwangsdeportierten, wie Karoline Weis oder Felix Ganz, sollten ihr Vermögen verlieren.

Wieder waren die Finanzämter die willigen Helfer. Sie taxierten die verbliebenen Wertgegenstände und Sparkonten der Geflüchteten und Deportierten. Sie bestimmten die Sachverständigen, die die Kunstgegenstände bewerteten. Der Sachverständige bestimmte, dass alle wichtigen Kunstgegenstände aus Mainz an das Mainzer Museum gehen sollten. Die Mainzer Gemäldegalerie, die Vorgängerin des Landesmuseums, akzeptierte diese Zuweisungen. Damit beteiligte sich die Gemäldegalerie  an der Enteignung der Juden.

Im Oktober 1945 wurde der erste jüdische Gottesdienst nach Kriegsende in Mainz gefeiert. Es kamen etwa zwanzig Gläubige. Vor dem Krieg hatte die jüdische Gemeinde über zweitausendsechshundert Mitglieder. In den nächsten Jahren kehrten nur wenige jüdische Mainzer aus den Lagern oder dem Exil zurück. Der Neuanfang war schwer. Die Städte waren zerstört und die deutsche Gesellschaft begegnete den Rückkehrern mit Misstrauen.

Gerti Salomon überlebte den Holocaust. Erst 1950 kam sie zum ersten Mal wieder nach Mainz. Von der Suche nach den Antiquitäten ihres Vaters berichtet sie (ebenda, S. 111 ff.):

„Ich ging in das ehemalige Judenhaus, das die letzte Bleibe meiner Mutter vor ihrer Deportation gewesen war.

Die Frau, die mir die Tür öffnete, hatte ein verkniffenes Gesicht. Sie war eine ältliche Person, die ich von früher flüchtig kannte, als sie den behinderten Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie gepflegt hatte.

‚Ei, das Fräulein Salomon.‘, rief sie erstaunt aus, ‚Sie leben noch?‘ -

‚Ja, ich lebe noch‘, sagte ich. ‚Ich bin kurz zu Besuch und wollte Ihnen nur mal Guten Tag sagen.‘

Nach einigem Zögern ließ sie mich in die Wohnung. Als ich das Wohnzimmer betrat, ging mir das Herz auf. Da stand der Bücherschrank mit all den Büchern, die mein Vater sorgfältig mit seiner Exlibris-Vignette versehen hatte. Auf der Stirnseite des Schranks war in gotischen Lettern geschrieben: ‚Labor omnia vincit!‘ – ‚Arbeit besiegt alles‘ – der Wahlspruch meines Vaters. Und da stand auch dieser wunderschöne gotische Tisch, der all die Jahre den Herrensalon unserer Wohnung in der Kaiserstraße geschmückt hatte. Ich sagte: ‚Wie schön, dass Sie die alten Sachen für mich aufbewahrt haben.‘

Sie erwiderte: ‚Für Sie aufbewahrt? Die hat mir Ihre Mutter doch geschenkt!‘

Ich sagte: ‚Aber das ist mein Erbe. Ich hänge daran. Diese Gegenstände sind die letzte Erinnerung an meine Eltern, die ich noch habe. Ich kaufe Ihnen ein neues Bücherregal und einen neuen Tisch. Dann sind Sie den alten Krempel los.‘

Die alte Frau zeterte. Es war ein unerfreuliches Gespräch. Aber schließlich war sie doch bereit, den Bücherschrank und den Tisch herauszugeben.“

Nach 1945 verweigerten viele die Herausgabe des geraubten Eigentums ihrer jüdischen Mitbürger. Auch öffentliche Institutionen taten das, die Museen waren keine Ausnahme. Heute stellen sich deutsche Museen ihrer Verantwortung. Provenienzforscherinnen und Provenienzforscher suchen die Erben der Eigentümer. Das Landesmuseum möchte mit diesem Spaziergang zeigen, dass das eine notwendige Aufgabe ist.

Vom Münsterplatz zurück zum Landesmuseum ist es nicht weit. Man geht zwanzig Meter weiter bis zur Großen Bleiche und nach rechts. Auf dem Weg zum Landesmuseum begegnet man Stolpersteinen. Wer die Geschichte einiger Mainzer Juden kennt, betrachtet sie vielleicht mit neuem Blick. Sie markieren Stationen im Leben von Menschen, die Kunst sammelten, Geschäfte betrieben, zur Schule gingen und sich als Mainzer Bürger fühlten.

Berkessel, Hans; Brüchert, Hedwig u. a. (Hrsgg.): Leuchte des Exils. Zeugnisse jüdischen Lebens in Mainz und Bingen (= Beiträge zur Geschichte der Juden in Rheinland-Pfalz, 1). 2016, Mainz am Rhein.
Einführung mit vielen Quellen und Dokumenten vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Dobras, Wolfgang (Hrsg.): Der Nationalsozialismus in Mainz 1933 – 45. Terror und Alltag (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 36). Mainz, 2008.
Katalog einer Ausstellung des Mainzer Stadtarchivs mit vielen Beiträgen– lesenswert!

Keim, Anton Maria (Hrsg.): Als die letzten Hoffnungen verbrannten - 9/10.November 1938. Mainzer Juden zwischen Integration und Vernichtung (= Mainzer Edition, 5). Mainz, 1988.
Die Mainzer jüdische Gemeinde von der Weimarer Republik bis zur Verfolgung der Mainzer Juden im Nationalsozialismus – auch heute noch unverzichtbare Darstellung

Meyer-Jorgensen, Gerti: „Hier sind meine Wurzeln, hier bin ich zu Haus.“ Das Leben der Gerti Meyer-Jorgensen, geborene Salomon. Mainz, 2010.
Erinnerungen der überzeugten Mainzerin und Jüdin Gerti Salomon (1918-2011)

Barḳai, Avraham: Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933 – 1943. Frankfurt am Main, 1988.
Gut lesbarer Überblick zum Thema „Arisierung“ des jüngst verstorbenen deutsch-israelischen Historikers

Bertz Inka; Dorrmann Michael (Hrsgg.): Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Göttingen, 2008.
Katalog zur Ausstellung des Frankfurter Jüdischem Museum mit vielen Fallgeschichten zum Thema    

Interessante Webseiten:

https://www.haus-des-erinnerns-mainz.de/

https://www.arbeitskreis-provenienzforschung.org/

https://www.mainz1933-1945.de/verfolgung.html